III. Die letzte KBN-Redaktion (1956-1965). (c) Verstarkte Anstrengungen zur Veroffentlichung des KBN-Illustrationsbandes

(c) Verstarkte Anstrengungen zur Veroffentlichung des KBN-Illustrationsbandes

Fur die beabsichtigte neue Fotosammlung der LO I.I. bestand die Gefahr eines zunehmenden Chaos. Die Fotos wurden namlich von Institut zu Institut und von Hand zu Hand gereicht. Selbstverstandlich kam es vor, dass bestimmte Nummern oder auch wichtige Teile der Fotosammlung verlegt wurden oder verloren gingen oder man nicht genau wusste, wo sie sich augenblicklich und spater dauerhaft befinden sollten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Organisatoren gezwungen waren, sich an die mit dem illustrativen Teil beauftragten Mitarbeiter mit folgenden Bitten zu wenden, wie beispielsweise im Brief von V. V. Struve an A. I. Boltunova vom 14. I. 1961:[69]

Sehr geehrte Anna Ivanovna!

Ich bitte Sie angesichts der Tatsache, dass das Manuskript des Corpus der bosporanischen Inschriften zum 15. Januar dieses Jahres beim Verlag zwecks Korrekturlesen und technischer Details fur den Druck des illustrativen Teils eingereicht sein muss, instandig, umgehend alle bei Ihnen vorhandenen Fotos der Inschriften zu schicken, da, wie es sich herausgestellt hat, noch viele Fotos fehlen. Sie verfugen ja uber einen vollstandigen Satz der Fotos. Die Vorbereitungen zur Veroffentlichung der Inschriften sind nahezu abgeschlossen, daher mussen die bei den zustandigen Mitarbeitern vorhandenen Fotos zuruckgegeben werden, zumal diese Materialien jetzt unbedingt vonnoten sind.

Ich bedanke mich im voraus.

V. V. Struve

Akademiemitglied

Die Antwort Boltunovas vom 21. I. 1961 auf dieses Schreiben ist sehr ausfuhrlich. Daher wird sie hier nur in einer Zusammenfassung wiedergegeben: sie besitze keinen vollstandigen Satz der bosporanischen Fotos,[70]viele Aufnahmen und Negative habe sie auf eigene Rechnung gemacht, um diese dann mit den "Epigraphiker-Kollegen" zu teilen; sie selbst habe nur einzelne Aufnahmen von den vier Abzugen, die die Redaktion angelegt habe, erhalten; wenn in der LO I.I. Aufnahmen fehlten, dann sei dies auf eine unsachgema?e Aufbewahrung zuruckzufuhren. Deshalb sei es nicht angemessen, von ihr alles zu fordern, man solle ihr doch vielmehr die Nummern der noch fehlenden Inschriften schicken, dann werde sie sich auch bemuhen, die bestehenden Lucken im Hauptexemplar zu schlie?en.[71]

Die Ausgabe eines Corpus, der zu dieser Zeit immer mit einem illustrativen Teil konzipiert wurde, erwies sich als ein kostspieliges Unterfangen. Aus dem Kostenvoranschlag des Leningrader Verlags der Akademie der Wissenschaften ergibt sich, dass die Gesamtsumme der Ausgabe 1.458.348 Rubel und 20 Kopeken betrug, von denen 956.920 Rubel auf den "Druck der Illustrationen auf Fotosatz" veranschlagt wurden.[72]Nach der Wahrungsreform von 1961 wurde die Summe von 40.000 Rubel genannt.[73] In einer anderen Berechnung kostete der illustrative Teil 5.000 Rubel.[74] Eine solche Summe hat die AkdW SSSR fur den Bosporanischen Corpus nicht bereit gestellt. Es wurde der Versuch einer Kostenteilung vorgenommen, weshalb man sich auch an die Archaographische Kommission der AkdW wandte oder wenden wollte.[75] Da es nicht zu einer Losung kam, musste man nach anderen Wegen suchen.

Aus der teilweise (im SPb I.I.) erhaltenen Korrespondenz zwischen Struve und Kallistov von 1960 bis 1962 wird deutlich, dass fur den KBN die Leitung der AkdW SSSR hinzugezogen wurde, namlich: der Prasident und das Akademiemitglied der AkdW SSSR A. N. Nesmejanov, das Akademiemitglied und der Sekretar der Abteilung der Historischen Wissenschaften der AkdW SSSR E. M. Zukov, der Direktor des Historischen Instituts und korrespondierendes Mitglied der AkdW SSSR V. M. Chvostov u. a. Andererseits sind Reprasentanten der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin beteiligt: ihr Prasident W. Hartke, O. Neuendorf aus der Abteilung Sprachen, Literatur und Kunst, J. Irmscher vom Institut fur Griechisch-Romische Antike.[76] In die Verhandlungen wurden auch der Verlag der AkdW SSSR (Direktor A. I. Nazarov) und der Akademie Verlag in Ostberlin (Direktor L. Koven) einbezogen.[77] Wahrend dieser Verhandlungen wird neben dem umfangreichen maschinengeschriebenen Manuskript (mehr als 2500 Seiten) mehrmals auf die dazugehorenden "ungefahr 1000 Fotos" hingewiesen.[78] Es wird auch betont, dass "die Ablichtung aller erhaltenen Denkmaler von neuem durchgefuhrt wurde."[79]

Dank der deutschen Antikenforscher, unter denen sich so einflussreiche Leute in der Berliner Akademie der Wissenschaften wie V. Hartke, J. Irmscher und G. Klaffenbach befanden, die die Bedeutung der in Leningrad geplanten Ausgabe erkannten, gab es begrundete Hoffnungen auf die Veroffentlichung der bosporanischen Inschriften mit dem Illustrationsmaterial in Ostberlin. Es wurden auch Varianten erortert: entweder den Corpus nur auf russisch oder gleichzeitig mit dem russischen Original auch in einer deutschen Ubersetzung herauszugeben;[80] es wurde auch besprochen, wie viele Exemplare gedruckt werden sollten, wer sie wo verteilt usw. Es hat kaum einen Sinn, auf die wechselvolle Geschichte dieser langen, sich ungefahr drei Jahre (1960-1962) hinziehenden Verhandlungen einzugehen. Das Ganze erinnert – wenn auch nicht so unheilvoll – an das Jahr 1949, als ein solches Vorhaben fur die russische Seite ein Politikum war: was ist patriotischer, in seinem Heimatland nicht zu publizieren oder au?erhalb seiner Grenzen zu publizieren? Dieses Motiv wurde von verschiedenen Personlichkeiten vorgetragen, z. B. in dem Brief der Akademiemitglieder Tichomirov und Struve an den Direktor des Verlages der AKdW SSSR, A. I. Nazarov:[81]

Das Erscheinen eines derart monumentalen epigraphischen Werkes, das zum ersten Mal in der Sowjetunion in Form einer gemeinsamen Edition mit der deutschen Akademie der Wissenschaften fur den internationalen Buchermarkt fertiggestellt wurde, konnte eine unrealistische Vorstellung von den verlegerischen Moglichkeiten in der Sowjetunion abgeben und sich unvorteilhaft auf unser wissenschaftliches Ansehen auswirken.

Es sei angemerkt, dass das patriotische Argument nicht so sehr angefuhrt wurde, um die deutsche Ausgabe zu verhindern, von der erfahrene Wissenschaftsorganisatoren nicht uberzeugt waren, sondern vielmehr als zusatzlicher Anreiz fur eine einheimische Ausgabe. Mit einem erneuten Antrag an einen inlandischen Verlag war aber auch diesmal die Befurchtung verbunden, dass man des Versuchs beschuldigt wurde, eine Ausgabe im Ausland zu publizieren, ohne vorher die Moglichkeiten im eigenen Land ausgeschopft zu haben. Trotzdem zeigen die Dokumente, dass nicht die Ideologie, sondern die Tatsache ausschlaggebend war, dass man sich letztendlich nicht in geschaftlichen Fragen einig werden konnte.

Eine endgultige Absage, den KBN in der DDR zu drucken, enthalt der Brief des Berliner Akademie Verlags vom 18.V.1962 an Kallistov[82] : die Verwirklichung des Projekts sei weder ein wissenschaftliches noch ein drucktechnisches, sondern vielmehr ein geschaftliches Problem. Ubrigens schreibt noch am 28.V.1962 Irmscher an Zukov, dass fur die Zusammenarbeit die Zusendung eines Druckmanuskripts zur Kenntnisnahme an das von Irmscher geleitete Institut fur griechisch-romische Altertumswissenschaften unerlasslich sei. Eine solche Sendung mit einem Manuskript und sogar einem umfangreichen Fotosatz war aber offensichtlich eine politische Angelegenheit: als die Redaktion namlich das Manuskript schicken wollte, war die Verhandlung in den Augen der Behorden bereits unerwunscht.

Da es um die Ubergabe eines Manuskripts an einen soliden deutschen Verlag ging, hatte es sich die Redaktion zur Pflicht gemacht, als sie Ende 1960 die Arbeit am Corpus mit dem illustrativen Teil beendete[83], die Ausgabe technisch perfekt auszufuhren. Von der AkdW SSSR wurde eine "besondere Summe fur die redaktionelle und technische Uberarbeitung des Manuskripts in der Leningrader Abteilung des Verlags der AkdW SSSR" gefordert, "damit das Manuskript mit der erforderlichen Verlagsmarkierung unmittelbar an den Verlag der DDR geschickt werden kann."[84]

Auch wenn die Fertigstellung des KBN fur eine Ubergabe an den Berliner Akademie Verlag unter schwierigen Bedingungen erfolgte – die erforderlichen Mittel wurden nicht immer regelma?ig bereit gestellt –[85] forderte dies nicht nur eine qualitativ anspruchsvolle Bearbeitung des schriftlichen, sondern auch eine zuverlassige Systematisierung des illustrativen Teils: die "Montage" des KBN war namlich Sache von Verlagsspezialisten.


[69] ZES, f. 17, Inventarverz. 2, Nr. 133, Bl. 23.
[70] Ibd., Bl. 24f. Schon nach dem Erscheinen der 1. Auflage des CIRB-Albums im Herbst 2004 erfuhr die Redaktion, dass die Fotosammlung von Boltunova in Moskau im kleinen Vladimir-Blavatskij-Institut am Archaologischen Institut in Moskau aufgetaucht war und allmahlich den Forschern zuganglich gemacht wurde.
[71] Es sei hier angemerkt, dass in der spateren deutschen Ausgabe des Buches (V. F. Gajdukevic Das Bosporanische Reich [Berlin 1971] 231 Anm. 212; 341-342 Anm. 22; 364 Anm. 76 usw.) der Autor aus verschiedenen Anlassen mit Boltunova polemisiert.
[72] ZES, f. 17, Inventarverz. 2, Nr. 133, Bl. 72-74; siehe Bl. 75-76, wo eine andere Berechnung zugrunde gelegt wird.
[73] Diese Summe wird in dem Brief von Kallistov an Chvostov vom 19. I. 1962 genannt (ibd., Bl. 28-28b).
[74] Ibd., Bl. 50: Darin wird angemerkt, dass uber diese Summe noch zu diskutieren ist.
[75] Die Moglichkeit einer Zusammenarbeit mit der Archaographischen Kommisson fur die Ausgabe eines Illustrationsbandes wird in dem Fragment eines Briefentwurfs erwahnt (siehe Fn. 75).
[76] Ibd., Bl. 36.
[77] Ibd., Bl. 14-22; 26-28; 30-36.
[78] In dem Brief vom 12. V. 1962 von Kallistov an Irmscher (ibd., Bl. 33): " ... ungefahr 1000 Fotos der Denkmaler (auch derer, die jetzt in England aufbewahrt werden)." Vergleiche den Brief von Tichomirov und Struve an den Verlag der AKdW SSSR (wahrscheinlich 20. VI. 1961), ibd., Bl. 26.
[79] Brief von Struve an Nesmejanov vom 2. I. 1961 (ibd., Bl. 20), das gleiche im Brief von Struve an Neuendorf vom 24. XII. 1960 (im russischen Text: Ibd., Bl. 15; im deutschen, der ihm nicht ganz entspricht: Ibd., Bl. 16-17).
[80] Siehe den Brief von Kallistov an Chvostov Ende 1961 oder Anfang 1962 (Ibd., Bl. 28).
[81] Ibd., Bl. 27; vgl. auch Bl. 49, wo Struve sich in Andeutungen bei Zukov danach erkundigt, ob die Abteilung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR selbstandig verhandeln durfe oder ob hierfur die offizielle Vorgehensweise auf "kompetenter" Ebene vorgezogen werden solle.
[82] Ibd., Bl. 34.
[83] In seinem Brief vom 24.XII.1960 an Neuendorf bekennt Struve allerdings, dass fur eine endgultige Version aus unterschiedlichen Grunden noch ein halbes Jahr erforderlich sei.
[84] Aus dem Brief von Struve an Zukov (ibd., Bl. 15).
[85] Ibd., Bl. 49r.: Struve bittet die Verwaltung der Abteilung um Unterstutzung in Form einer Absage der Mitarbeiter des Verlags, das Manuskript mit der erforderlichen Markierung in ihrer Freizeit unentgeltlich fertig zu stellen.