IV. Der Dammerschlaf des Illustrationsbandes

Ende der 60er Jahre beschaftigte sich Dovatur immer mehr mit dem Gedanken einer Ausgabe ausgewahlter Inschriften der Nordschwarzmeerkuste im Geiste einer kommentierten epigraphischen Chrestomathie W. Dittenbergers (Sylloge inscriptionum Graecarum). Auch andere Moglichkeiten wurden erwagt. Die ausgesuchten, sorgsam kommentierten Inschriftentexte sollten zusammen mit begleitendem Fotomaterial der Inschriften und mit Addenda et corrigenda zum KBN versehen werden: Korrekturen der Ungenauigkeiten, Hinweise zu der neuesten oder nicht berucksichtigten Literatur zu den im KBN veroffentlichten Inschriften und eventuell die neuesten epigraphischen Funde mit Texten, Kommentaren und wiederum neuen Abbildungen. Anstelle eines zu umfangreichen KBN-Illustrationsbandes dachte man jetzt an eine Auswahl von Illustrationen zu besonders interessanten Inschriften, wobei das Fotomaterial zwar die Hauptsache war, aber auch als Koder fur den Druck anderer Werkteile dienen sollte: am Ende kam dabei heraus, dass man sogar im akademischen Institut, dessen Rolle bei der Erfullung der Gesamtaufgabe gerade entscheidend war (d. h. im LO I.I.) den Eindruck eines akademischen Fundamentalismus eher abschwachen musste, um die Veroffentlichung der Fotosammlung nicht zu gefahrden.

Fur die Geschichte der Fotosammlung ist auch die Mitteilung interessant, die im Bericht der Abteilung fur Antike der LO I.I. (damalige offizielle Bezeichnung: Gruppe der antiken Staaten auf dem Gebiet der UdSSR) 1973[105] angefuhrt wurde. Daraus wird klar, dass zu Beginn der 70er Jahre die Gruppe den Versuch einer Neubelebung der Herausgabe eines KBN-Illustrationsbandes unternahm. Die ausfuhrenden Personen dieses Plans waren: A. I. Dovatur (Herausgeber), A. A. Nejhardt und I. V. Kuklina.[106] In den Unterlagen der Gruppe ist ein 9seitiges maschinengeschriebenes Dokument enthalten, in dem der Plan einer zukunftigen Ausgabe ausgefuhrt wird.[107] Alle KBN-Fotos, die zu Beginn der 70er Jahre im LO I.I. verfugbar und in Ordnung waren, namlich 906,[108] wurden auf Tabellen verteilt (121 Blatt). Die Kartons mit den Fotos, ein Karton a 100 Stuck, enthielten kleinere Umschlage mit den jeweiligen Fotoillustrationen zu 10 Corpusnummern.[109]

Fast gleichzeitig, 1974, erinnerte man sich auch im Wissenschaftlichen Archiv der LOIA an die Fotos des bosporanischen Corpus. Es wurde angemerkt, dass die Original-Negative der KBN-Fotoillustrationen nicht im Institut fur Archaologie vorhanden waren. Daher bestellte dieses Institut uber die LAFOKI Reproduktionen vom Hauptexemplar des Historischen Instituts: 690 Negative und davon "Kontroll"Abzuge, die bis heute im IIMK aufbewahrt werden.[110] Von 1979 bis 1980 erstellte E. S. Domanskaja ein Verzeichnis "auf der Grundlage eines Vergleichs mit den Negativen der LO I.I. und den jeweiligen KBN-Nummern (kursiv des Verf.) sowie einer Uberprufung mit den KBN-Texten."[111]

Die deutschen Wissenschaftler, die von der Existenz des KBN-Fotarchivs zu Beginn der 60er Jahre erfuhren, begannen es in den 70er Jahren fur ihre Untersuchungen zu konsultieren. Das wird durch ein Schreiben (24.I.1973) von von der Sachsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig an den Direktor der LO I.I., N. E. Nosov, dokumentiert, in dem die Ausfuhrung eines Auftrags fur den bekannten Herausgeber der Gedichtinschriften, W. Peek, bestatigt wird. Peek benotigte namlich Faksimilematerial zu den metrischen Epitaphien.[112] Fur die Erfullung dieser Bitte mussten Kallistov und Sisova einen neuen Auftrag an das KBN-Fotoarchiv der LO I.I. und der LOIA stellen.

Wenn man von diesen wenigen Episoden absieht, wurde die Veroffentlichung der KBN-Fotothek erst einmal wegen ihrer geringen Perspektiven fur viele Jahre auf Eis gelegt, zumal es andere wichtige wissenschaftliche Projekte gab, von denen eine kommentierte Ausgabe des Skythischen Logos des Herodot das umfangreichste war.[113] Was die Sylloge betrifft, konnte diese Idee in der Konzeption Dovaturs ohne seine Mitarbeit nicht verwirklicht werden. Nach seinem Tod 1982 befand sich die Arbeit noch in ihren Anfangen und war fur eine kollektive Bearbeitung zu individuell konzipiert. Die von Dovatur bereits vollendeten Skizzen wurden fur den Druck vorbereitet,[114] jedoch musste die Idee selbst unter den neuen Bedingungen auf ihre Realisierbarkeit gepruft werden. Diese ausgezeichnete Idee kann auch jetzt noch als desideratum angesehen werden, die jeder und jedem zur Verwirklichung offen steht, der sich dieser gro?en wissenschaftlichen Aufgabe gewachsen sieht.

Auf der anderen Seite existierte ein Verzeichnis der um 1964 in der LO I.I. vorhandenen Fotos nur im Entwurf,[115] und die Originalnegative (um die 800!)[116], die von Boltunova und Belova angelegt und / oder bestellt wurden, galten mit Ausnahme von wenigen als verschollen.[117] Fast die Halfte davon, wie spater noch gezeigt wird, wurde aus verschiedenen Quellen erneut zusammengetragen. Dass der heutige Standort der ubrigen nicht bekannt ist, bedeutet selbstverstandlich nicht, dass diese nicht wieder auftauchen konnt

 


 

[105] Im Bericht der Gruppe der antiken Staaten fur 1972 (F.II, Inventarverz. 1, T. 2, Nr. 185, Bl. 28) hei?t es: "Die Arbeit fur die Ausgabe des 2. Bandes des Corpus der bosporanischen Inschriften (des Illustrationsteils) ist abgeschlossen. Die Fotos und die Negative von den Inschriften, die im Corpus enthalten sein sollen, sind systematisiert und uberpruft. Die Verzeichnisse sind komplett, ebenso die Addenda et corrigenda und der einleitende Bericht."
[106] Die Beschaftigung Kallistovs mit dem Illustrationsmaterial wird in diesen Berichten nicht erwahnt, obwohl sich Zeitzeugen daran erinnern, dass Kallistov als Leiter der Abteilung fur Antike der LO I.I. eine Zeit lang mit dem Gedanken spielte, ein KBN-Fotoalbum auf eigene Kosten herauszugeben.
[107] ZES, f. 17, Inventarverz. 2, Nr. 133, Bl. 112-120. Au?er diesem Dokument sind uns keine weiteren Belege fur diese Arbeit bekannt, es sei denn, man rechnet dieser einen Teil der anonymen Anmerkungen auf der Ruckseite der Aufnahmen aus den zwei Fotosatzen der LO I.I. zu.
[108] Diese Zahl wird in dem zusammenfassenden Bericht von 1975 uber die Arbeit der vergangenen Jahre erwahnt (F. II, Inventarverz.1, T. 2, Nr. 227, Bl. 29).
[109] Ein solcher Karton befindet sich als Muster im Archiv (ZES, f. 17, Inventarverz. 2, Nr. 133, Bl. 135): er enthalt die Fotos bis zur Nummer 900, darunter die Nummern 816-895, in deren Nummerierung (wahrscheinlich wegen einer spaten Umstellung der Inschriften innerhalb des Corpus) ein Bruch auftrat, in deren Folge die Ziffern, die mit blauem Stift und einer Kreismarkierung auf der Ruckseite der Fotos angegeben sind, bis zur Nummer 890 die Endsumme mit einer Nummer, ab 890 mit zwei Nummern angibt. Dieser durchgehende Fehler weist darauf hin, dass alle Fotos noch bis zur Corpus-Veroffentlichung verglichen und mit einem blauem Stift durchnummeriert wurden. Ein solcher Serienbruch konnte bei der individuellen Identifikation von fruher unidentifizierten Fotos nicht nach dem Druck des KBN passiert sein. Das wird auch dadurch bestatigt, dass der oben erwahnte Bruch im handgeschriebenen KBN-Fotoverzeichnis (siehe Fn. 67) und auch in der maschinengeschriebenen Version des Artikels von Boltunova und Knipovic von 1961 (siehe Fn. 63) vorkommt. Auf der Ruckseite der Fotos ist diese Unstimmigkeit in der Nummerierung spater – aber sicher vor 1965 - bemerkt und durch einen gewohnlichen Bleistift korrigiert worden; durch wen und wann dies damals erfolgte, ist nicht festzustellen.
[110] Ein Verzeichnis der erwahnten Fotomaterialien befindet sich in der FA IIMK (F. 48, Inventarverz. der Koll. 2887, "Corpus der bosporanischen Inschriften" [das Dokument wurde am 31.X.1979 aufgestellt], Bl. l-30.
[111] Ibd., Bl. 30 (Eintrag von E. S. Domanskaja vom 28.II.1980).
[112] ZES, f. 17, Inventarverz. 2, Nr. 133, Bl. 42-43.
[113] A. I. Dovatur, D. P. Kallistov, I. A. Sisova. Die Volker unseres Landes in der Geschichte des Herodot. (russ.) Moskau 1982. An dieser Arbeit beteiligten sich auch: A. A. Nejhardt, I. V. Kuklina und A. N. Vasil'ev. In der minutiosen Fertigstellung der Verlagsausgabe des Bandes (I. A. Sisova, A. A. Nejhardt) spielte der damalige Doktorand der LO I.I. und (bereits verstorbene) talentierte Linguist, E. B. Novikov, eine bedeutende Rolle.
[114] Diese Aufsatze und Materialien sind ein Teil des Sammelbandes Studien zur antiken Geschichte und Kultur der Nordschwarzmeerkuste. (russ.) (siehe Fn. 18), die von der Abteilung fur Antike der LOII in der zweiten Halfte der 80er Jahre vorbereitet und 1992 veroffentlicht wurden. Die Mittel fur diese Ausgabe wurden auf Initiative von B. Funck bei der Gerda Henkel Stiftung erworben und der Gruppe zur Verfugung gestellt. Ein kleines Rest des Geldes wurde im Sommer 1993 durch allgemeinen Beschluss fur S. R. Tochtas'evs Reise in das Kercer Museum zur Beschaftigung mit den dortigen Inschriften bereit gestellt.
[115] Siehe Fn. 67.
[116] Als der Moskauer Fotograf Mezericer in seinem Brief an Belova (ZES, f. 17, Inventarverz. 2, Nr. 133, l. 4) die Bezahlung seiner Arbeit aus den Mitteln der LO I. I. anmahnt, teilt er unter anderem mit: "Ich habe ungefahr 800 Negative in der Fotothek." Diese Ziffer wiederholt sich in verschiedenen Dokumenten am haufigsten. Die gleiche Zahl wird auch in den Berichten fur 1992 (F. II, Inventarverz. 1. T. 2. Nr. 227, Bl. 15-16) genannt; siehe dazu Fn. 125.
[117] Im Verzeichnis der LOIA (siehe Fn. 110) sind nur vier aufgefuhrt: KBN Nr. 679, 682, 685, 686.