III. Die letzte KBN-Redaktion (1956-1965). (d) Der KBN (1965) ohne Illustrationsband

(d) Der KBN (1965) ohne Illustrationsband

Nachdem die letzten redaktionellen Vorbereitungen fur den Druck erledigt worden waren[86] , erschien 1965 der KBN mit seinen 1325 Inschriften[87] in Leningrad, wahrend die Veroffentlichung "des Illustrationsbandes" uberwiegend aus finanziellen Erwagungen auf unbestimmte Zeit aufgeschoben wurde. Auch wenn der Hauptband sehr positive Reaktionen in der nationalen wie internationalen Fachwelt hervorrief, wurde das Fehlen von dokumentierenden Illustrationen als ein schwerer Mangel angesehen. In diesem Sinne au?erten sich in ihren jeweiligen KBN-Rezensionen O. O. Kruger[88], B. Lifschic,[89] G. Michajlov,[90] B. Nadel und S. Oswiecimski,[91] Jan Pecirka,[92] N. V. Pigulevskaja[93] und – ultimum haud exiguum – L. Robert.[94] Da die Forscher die Inschriften einer umfassenden Analyse unterzogen, mussten sie sich vorstellen konnen, wie das Denkmal zum gegenwartigen Zeitpunkt aussieht oder (noch besser) fruher aussah. Die bereits erwahnten Rezensenten Nadel und Oswiecimski kritisierten die Weigerung der Redaktion, Latein als internationale Sprache zu benutzen, und warfen den KBN-Herausgebern die ungenugende Berucksichtigung der neuesten wissenschaftlichen Literatur vor.[95] Au?erdem empfanden Sie es als Widerspruch, dass im KBN standig auf die au?erordentliche Bedeutung von Illustrationen fur die epigraphische Forschung hingewiesen wurde, dieses wichtige Material in der Ausgabe selbst aber vollkommen fehlte.[96]

Der bekannte Petersburger Inschriftenkenner Otto O. Kruger teilte der Redaktion seine Meinung zum Fehlen der lllustrationen noch vor dem Erscheinen der Ausgabe folgenderma?en mit:[97]

„Man muss doch sehr bedauern, dass im Corpus keine Fotos und Zeichnungen zu den Inschriften enthalten sind, was diese gro?e wissenschaftliche Leistung schmalert. Darauf zu hoffen, dass die Ausgabe bald durch eine neue ersetzt wird, ist nicht realistisch. Deshalb ist es au?erordentlich wichtig, diesen Corpus mit einem Album und mit Fotos der Inschriften zu erganzen, die gema? den eingeholten Auskunften 1000 Stuck betragen. Die Fotos und Zeichnungen sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Kommentare. Das ist objektives Material, das eine Moglichkeit zur Datierung der Inschriften bietet. <...> Das Album bote ein reiches Lehrmaterial fur jungere Inschriftenkenner <...>; die Beschadigungen der Inschriften sowie die ortlichen Besonderheiten wurden sich von selbst erklaren. Die Forderung einer Vervollstandigung des Corpus durch ein Album ist fur den Inschriftenkenner eine Selbstverstandlichkeit und braucht nicht besonders erklart zu werden. Ein solches Album wurde dem Corpus einen wirklich zeitgema?en Charakter verleihen, den er in der jetzigen Form nicht besitzt: So wird einfach nicht mehr publiziert. Die Fragen der Ubereinstimmung der Palaographie des Bosporanischen Reiches und anderer Gebiete der hellenistischen Kultur auf der Grundlage des Corpus bleiben ungelost, so wie die Frage des Imports bosporanischer Inschriften aus anderen Landern ungelost bleibt.“

Es sei angemerkt, dass eine solche Kritik als eine Art der kollegialen Hilfe im "entwickelten Sozialismus" verstanden werden konnte, indem man der Redaktion ein weiteres Argument dafur lieferte, dass die Leitung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR weitere Mittel fur eine Ausgabe auftreiben moge.

Wahrend die KBN-Ausgabe vorbereitet wurde, war die Fotothek standig im Umlauf. Sie wurde auch nicht in einem Archiv aufbewahrt, zumal die Arbeit der historisch-philologischen Kommentierung der Inschriften an der LO I.I. durchgefuhrt wurde, die LOIA aber fur die au?ere Beschreibung der Denkmaler verantwortlich war. Es verwundert also nicht, dass im Laufe dieser minutiosen Arbeit die Fotosammlung immer mehr dezentralisiert wurde und der Verlust der richtigen Ordnung drohte, die es erlaubte, jedes einzelne Dokument leicht wiederzufinden und die gesamte Fotothek zu uberschauen. Dieser Prozess wurde auch durch die sich verzogernde Veroffentlichung und durch die Tatsache begunstigt, dass der Corpus trotz Anstrengungen vieler Beteiligter ohne Illustrationsteil herausgegeben wurde. Die Aufbewahrung und Vollstandigkeit der Sammlung war somit standig gefahrdet.[98]

Dieser Prozess wurde noch bedrohlicher, weil das Kollektiv, das sich mit der Fertigstellung des KBN und insbesondere mit der Fotothek beschaftigte, zum Zeitpunkt des Erscheinens des KBN um 1965 auseinander ging. Schon im Bericht des Historischen Instituts von 1959 wird der Austritt von Belova aus Krankheitsgrunden aus der Redaktion erwahnt.[99] Unmittelbar vor dem Erscheinen des KBN verlie? Boltunova die Redaktion. Beide Sammlerinnen von bosporanischen Fotos veroffentlichten die neugefundenen Inschriften im VDI und anderen Ausgaben noch in den 80er Jahren; dagegen ist aber keine direkte Spur ihrer Arbeit am illustrativen KBN-Archiv sichtbar, das vor allem dank ihrer Bemuhungen zustande kam.

Der Konflikt fast aller Redaktionsmitglieder mit Boltunova erreichte in der Tat seinen Hohepunkt um 1964, so dass in einem Beschluss der Historischen Abteilung der AkdW SSSR (Nr. 4 vom 4.II.1965) ihr Ausschluss aus der KBN-Redaktion unmittelbar vor dem Erscheinen des Corpus entschieden wurde.[100] Den schriftlichen wie mundlichen Zeugnissen kann man entnehmen, dass einer Anerkennung der Verdienste Boltunovas fur den illustrativen Teil des KBN ihr Hang im Wege stand, ihren eigenen – wenn auch betrachtlichen – Beitrag zur kollektiven Arbeit[101] uberzubewerten. Sie nahm ab 1948 daran teil, langer als irgendein anderes Mitglied des Redaktionskollegiums unter Struves Leitung. Der Hang zu einer solch hohen Selbsteinschatzung fuhrt gewohnlich zur Nichtbeachtung des Beitrags anderer zur gemeinsamen Sache. Nicht gerade forderlich fur die Zusammenarbeit war sicherlich die Tatsache, dass sie in einer anderen Stadt wohnte. Und schlie?lich hat sich auf diesen Konflikt gerade auch die nicht erfolgte Ausgabe eines Illustrationsbandes negativ ausgewirkt, ein Umstand, fur den weder Boltunova noch die anderen Mitglieder des Redaktionskollegiums etwas konnen. Die Rolle Boltunovas in der Redaktion war ansonsten begrenzt: den Vergleich der Texte mit den Originalen oder Faksimiles fuhrten au?er ihr auch andere Personen durch, und in der historisch-philologischen Exegese der Inschriften konnte sie mit Dovatur und Gajdukevic nicht Schritt halten.

Es verwundert also nicht, dass die gekrankte Boltunova den Herausgebern[102] des KBN vorwarf, sie eigneten sich geradezu den Beitrag von Latyschev an oder wurden ihn absichtlich verschweigen.[103] Ihr gefielen ebenso nicht die russischen Ubersetzungen des Redaktionskollegiums, insbesondere der Ausdruck Corpus, der nicht dem russischen Gebrauch entsprache, denn es musste auf Russisch Svod (= Sammelwerk) hei?en. Der Vorwurf der Nichtwurdigung ihres personlichen Beitrags an der KBN-Fertigstellung wurde nur in einer verdeckten Form vorgetragen.

Die Redaktion sah es als notwendig an, darauf zu antworten.[104] Trotz des umfangreichen Textes, mit dem es das letzte KBN-Redaktionskollektiv zu tun hatte, bezeichneten sich die Mitglieder selbst nicht als Herausgeber des Corpus: auf dem Titelblatt wurden uberhaupt keine Namen genannt, sondern nur im Vorwort der Redaktion, in dem Latyschev und sein Manuskript zur 2. Edition der bosporanischen Inschriften als Grundstein des KBN bezeichnet wurden. Durch die Erwahnung funfzehn weiterer Personen im Vorwort wird deutlich, dass sich das Redaktionskollegium lediglich als letztes Glied in einer Kette von Kollektiven ansah, die an der Vollendung des Corpus mitgewirkt hatten, denn wie konnte man sonst die wechselvolle Geschichte der 50jahrigen Arbeit so vieler Personen auf dem Titelblatt kurz und genau wurdigen? Man durfte auch Latyschev nicht fur alles verantwortlich machen, was nach ihm schon von Zebelev und den nachfolgenden drei Redaktionskollegien in den Corpus eingeflossen war. Was Boltunova anbelangt, wurden ihre Publikationen im KBN zitiert und ihre Stellungnahmen in den Kommentaren kritisch berucksichtigt. Auch im KBN-Vorwort wurde sie mehrmals erwahnt, selbst wenn ihre gro?eren und unbestreitbaren Verdienste an der kollektiven Arbeit in der Fertigstellung des Illustrationsbandes lagen, dessen Ausgabe wieder einmal ad Kalendas Graecas verschoben wurde.


 

[86] An den abschlie?enden Arbeiten fur das Verlagsmanuskript zeichneten Nejhardt und Sisova fur die "technische Redaktionsfertigstellung" verantwortlich, die Korrektur des KBN und die Uberprufung der griechischen Indizes inbegriffen.
[87] Die Zahl der KBN-Inschriften wird oft ungenau wiedergegeben: Wenn man zu den bis zum Ende der 60er Jahre 1316 durchnummerierten Inschriften noch 4, die in den 60er Jahren erganzt wurden (KBN, S. 936-939), 6 weitere hinzufugt, die mit dem Buchstaben 'a' bereits im Corpus enthalten waren (6a, 703a, 733a, 888a, 1251a, 1260a), und dann noch den Fall der Nummer 1305 mitberucksichtigt, der aus Versehen die Nr 1301 zum zweiten Mal wiedergibt (siehe das Lemma zu Nr. 1305), ergibt dies 1325 KBN-Inschriften.
[88] VDI Nr. 2 (1966), 176-183.
[89] Rheinisches Museum fur Philologie 111 (1968) 23: "Mais le lecteur du nouveau Corpus deplorera l'absence totale des photographies d'insriptions et de reliefs."
[90] Linguistique Balkanique 11, 2 (1967) 92: "Le Corpus n'est accompagne d'aucune photographie, ce qui est regrettable, parce que l'epigraphie moderne ne pourrait pas se passer de la documentation photographique; celle-ci est absolument necessaire pour donner au lecteur une idee generale du monument, des ornements, du relief, du style du monument, de la forme des lettres (la forme des lettres n'est pas decrite dans le Corpus), de l'etat de la mutilation – bref, le lecteur est prive du moyen de pouvoir juger personnellement du monument, de sa date (d'apres le style archeologique et epigraphique), des lecons et des supplements. L'etude de A. I. Boltunova et T. N. Knipovic sur l'histoire de l'ecriture lapidaire grecque dans le Bospore, Numizmatika et epigrafika 3, 1962, 3-31, est importante, mais ne pourrait pas remplacer les photographies. C'est pourquoi je me permets de recommander la publication supplementaire d'une seconde partie illustrative."
[91] In beiden Rezensionen klagen Nadel und Oswiecimski (siehe Fn. 9) uber das fehlende Illustrationsmaterial.
[92] In seiner KBN-Rezension (Journal of Hellenic Studies 86 [1966], 294-296) hebt Jan Pecirka von der Karls-Universitat Prag die Verdienste Boltunovas als Inschriftenkennerin und die der Historiker, Philologen und Archaologen aus der KBN-Redaktion hervor. Das Fehlen der Fotos – bemerkt der Rezensent – ist besonders an den Stellen argerlich, wo die Illustration den Standpunkt der Herausgeber belegen konnte und der Text zu frei wiedergegeben worden ist (z. B. im KBN 992 und anderen metrischen Inschriften), wie es W. Peek vorschlagt (siehe VDI Nr. 3 [1960], 141-142).
[93] Voprosy Istorii (= VI) Nr. 1 (1966) 180-182.
[94] BullEpigr (1966) Nr. 282 und (noch deutlicher) Nr. 403: "... L'absence de toute photographie dans le Corpus est tres regrettable." Dagegen lobt Robert in Neue epigraphische Denkmaler von Chersones. (russ.) 1964 (BullEpigr [1966] Nr. 280) die dort beigefugten Fotos. Roberts Kritik bezuglich dieses Punktes (neben seiner allgemeinen Billigung des KBN) war gerade deshalb bedauerlich, weil die Redaktion dieser Forderung mit einem Illustrationsband vollauf Rechnung trug (vgl. seine Aussage im BullEpigr [1969] Nr. 400 nach dem Erscheinen der neuen Inschriften von Chersones und Olbia).
[95] In diesem Zusammenhang fuhren Nadel und Oswiecimski folgendes Beispiel an: das Supplementum Epigraphicum Graecum wird schon ab dem XIV. Band, der 1957 herauskam, nicht im KBN berucksichtigt. Die Verzogerung in der Veroffentlichung des KBN (wie oben ausgefuhrt, war dieser um 1959 beendet, aber erst 1965 herausgegeben) erklart – zumindest zum Teil – diese negative Auswirkung.
[96] Die Rezensenten verweisen auf die KBN-Kommentare zu den Nummern 15, 29, 38, 47, 57, 64, 88, 97, 104, 116, 119, 133, 135, 137, 141, 142, 144, 150 usw., wo die Redakteure die besondere Bedeutung der Originale oder der Faksimiles unterstreichen.
[97] O. O. Kruger (siehe Fn. 88), 176-183, insbesondere 176; der Rezensent klagt auch uber das Fehlen einer archaologischen Karte (damit wurde V. F. Gajdukevic beauftragt; es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Karte geplant wurde, aber erst fur den nunmehr aufgeschobenen Illustrationsband).
[98] Siehe oben (Fn. 49) die bezeichnende Episode in der Korrespondenz von Struve und Boltunova Anfang 1961.
[99] SPb I.I., Inventarverz. 1, T. 2, Nr. 138, Bl. 1. Trotzdem ubernahm Belova fur den Corpus, als sie 1960 zur Lehrtatigkeit wechselte, weiterhin einige Aufgaben, insbesondere die Beschaftigung mit den neugefundenen bosporanischen Inschriften. Uber Belova siehe die kurze biographische Auskunft von S. A. Sestakov, der posthum ihren Artikel Drei unveroffentlichte Grabdenkmaler aus Kerc: Archaologie und Geschichte des Bosporus. (russ.) T. 3 Kerc, 143, Fn. 1, veroffentlichte.
[100] Ein Zitat aus dem Brief von Struve vom 8.I.1965 zu diesem Beschluss wird im VDI Nr. 3 (1967), 174 angefuhrt: " ... An der endgultigen Fertigstellung des Manuskripts und auch an der nachfolgenden Realisierung der Ausgabe hat A. I. Boltunova nicht nur nicht teilgenommen, im Gegenteil: sie hat diese Arbeit au?erst erschwert."
[101] In ihrem Uberblick zur sowjetischen Epigraphik bestatigt Boltunova: "Toutes les pierres conservees ont ete photographiees. Tous ces travaux ont ete accomplis par A. I. Boltounova" (A. Boltunova. L'epigraphie en U.R.S.S. // Klio 51 [1969], 308). Boltunova hat in der Tat eine Menge fur den Illustrationsband geleistet, aber bei dieser Tatigkeit hatte sie viele Mitstreiter. Das ist um so merkwurdiger, als dass sie in Fragen der Urheberschaft den anderen au?erste Genauigkeit empfahl, selbst aber in der zuvor zitierten Reaktion davon abruckt: so wird weder die Arbeit Belovas noch die Fotomaterialien Latyschevs erwahnt (siehe Fn. 6) und die dazu angefertigten Erganzungen von S. A. Zebelev.
[102] A. I. Boltunova. Einige Worte zu dem "Corpus der bosporanischen Inschriften". (russ.): Brief an die Redaktion // VDI Nr. 4 (1966) 230-232.
[103] In einer viel gema?igteren Form au?erten einen ahnlichen Vorwurf Nadel und Oswiecimski in ihren KBN-Rezensionen (siehe Fn. 10).
[104] A. I. Dovatur, D. P. Kallistov. Antwort auf den Brief an die Redaktion des VDI aus Anlass des "Corpus der bosporanischen Inschriften." (russ.) // VDI Nr. 3 (1967), 172-174.