II. Die Redaktion unter I. I. Tolstoj

Die wieder aufgenommene Arbeit an der Redigierung des Bosporanischen Corpus wurde von September 1950 bis Dezember 1952 vom Akademiemitglied I. I. Tolstoj jun. (1880-1954) geleitet.[20] In dieser Zeit sammelte A. I. Boltunova intensiv fotographisches Material und verglich die Texte mit den Denkmalern. Als Mitarbeiterin der Redaktion "fur die Vorbereitung des Corpus der Bosporanischen Inschriften" kam im Marz 1951 T. M. Novozilova[21] hinzu.

Als Folge des Kampfes mit "Fremdlandischen Elementen" (und mit der Redaktion S. Ja. Lurias) setzte die Direktion der LO I.I. schon im Herbst 1949 fest, dass die Kommentare im Corpus nunmehr auf Russisch zu erscheinen hatten, so dass das in epigraphischen Editionen ubliche Latein von Latyschev, Zebelev und Luria nunmehr ins fur die meisten westlichen Altertumswissenschaftler unzugangliche Russische umgewandelt werden musste. M. E. Sergeenko[22] wurde mit der Ausfuhrung dieser im Sinne des politischen Isolationismus zu verstehenden Aufgabe beauftragt.[23] Neben der Bearbeitung der Inschriftentexte und der Redigierung der Kommentare wurde die Messung und Ablichtung der Denkmaler an ihren Aufbewahrungsorten fortgefuhrt. Der Corpus (damals wurde der Ausdruck Svod = Sammelwerk benutzt), der als maschinengeschriebenes Manuskript im Dezember 1952 fertig vorlag, enthielt ungefahr 1200 bosporanische Texte, darunter ungefahr 800 nochmals uberprufte;[24] bei 300 Fotos von diesen 800 Texten wurden neun Museen konsultiert, das sind ungefahr die Halfte aller Museen, in denen Denkmaler des bosporanischen Erbes heute aufbewahrt werden. Es ist ubrigens nicht ausgeschlossen, dass die Zahl 300 nur die Erganzung der alten Fotothek durch neue fotografische Aufnahmen wiedergibt.

Das maschinengeschriebene Manuskript[25] wurde Rezensenten zur Beurteilung geschickt, die trotz der Vorteile dieser Neuausgabe auch Mangel anmerkten: So schrieb T. N. Knipovic, Angestellte des IIMK und eine angesehene Spezialistin fur die Geschichte und die Inschriften der Nordschwarzmeerkuste,[26] dass "im Corpus eine unzureichende Anzahl von Fotos der Inschriften enthalten ist, da in einer vollwertigen Ausgabe doch ausnahmslos alle Fotos der Inschriften enthalten sein mussten, wobei im Falle einer stark beschadigten Inschrift diese durch eine Zeichnung des Abklatsches ersetzt werden muss."[27]

Auch "das epigraphische Vorwort und die historische Einfuhrung" von Tolstoj zum Corpus stie?en nicht auf die volle Anerkennung des Rezensenten.[28] Das Ende der Redaktionsarbeit wurde diesmal nicht durch politische Anschuldigungen, sondern durch den Tod Tolstojs herbeigefuhrt. Auch in der Beurteilung der redaktionellen Arbeit des Kollektivs unter seiner Leitung war man sich offensichtlich nicht einig. Die Arbeit an dem Sammelband (Svod) wurde nach dreieinhalb Jahren unterbrochen: obwohl offensichtlich schon fertig, war die Arbeit noch immer unvollendet.


 

[20]Fur die Petersburger Schule war die Epigraphik ein unverzichtbarer Bestandteil im Lehrplan historisch-philologischer Studien; in seinen letzten Lebensjahren arbeitete Tolstoj, der seine akademische Laufbahn mit dem Werk Die Wei?e Insel und Tauris im Pontos Euxeinos. ) begann ((russ.), 1918 als Monographie in Petrograd erschienen), an der Herausgabe der Keramikinschriften der Nordschwarzmeerkuste: I. I. Tolstoj. Die griechischen Graffiti in den Stadten der Nordschwarzmeerkuste. (russ.) Moskau, Leningrad, 1953.
[21]Fonds SPb I.I. RAN (= F. II.) Inventarverz. 2, T. 2, Nr. 100, Bl. 18-18a. T. M. Novozilova absolvierte ihr Studium an dem Lehrstuhl fur Antike Geschichte der Historischen Fakultat der LGU und beendete ihre Dissertation in den Kriegsjahren. Danach arbeitete sie als Archivarin.
[22]Antrag von Kallistov vom 19. XII. 1944 uber die Ruckkehr Novozilovas in die Gruppe als Doktorandin (ibd., Bl. 14).
[23]Uber die Entstehung ..., Bl. 1.
[24]Uber die Entstehung ..., Bl. 2. (ZES, f. 17, Inventarverz. 2, Nr. 133, Bl. 53). Diese Ziffer nennt auch Boltunova (VDI Nr. 4 [1996], 230-232; siehe Fn. 101). Uber diese ungefahre Anzahl der Inschriften in Latyschevs und Zebelevs Archiv sprechen auch Nadel und Oswiecimski in ihrer polnischen KBN-Rezension (B. Nadel, S. Oswiecimski, Nowe wydanie napisow Bosporanskich // Archeologia 18 (1967), 242). Im IosPE II und IV sind von Latyschev ungefahr 775 Stuck veroffentlicht, und in den nachfolgenden Ausgaben IAK (= Nachrichten der Kaiserlichen Archaologischen Kommission) und IRAIMK (= Nachrichten der russischen Akademie der Geschichte der Materialienkultur) noch um die 220; wenn man zu diesen fast 130 Stuck, die in den IAK von V. V. Skorpil veroffentlicht wurden, noch ungefahr 85 hinzuzahlt, die zu verschiedenen Zeiten von Ju. Ju. Marty publiziert wurden, ergibt dies rund 1200 Stuck, die von Zebelev mit inbegriffen. Von den Redaktionsmitgliedern unter Struves Leitung (daruber siehe weiter unten) hat vor allem Boltunova die neuen Funde veroffentlicht, 50 davon (inklusive die Inschriften, die sie als erste fur den KBN anfertigte) sind im Corpus enthalten.
[25]Das maschinengeschriebene Manuskript aus der Tolstoj-Redaktion diente noch in den 50er Jahren einigen Mitgliedern des neuen Redaktionskollegiums als Grundlage; so erzahlt es Boltunova in ihrem Brief an Dovatur vom 30.IX. 1959 (ZES, f. 17, Inventarverz. 3, Bl. 1r -1v).
[26]In diesen Jahren gab Knipovic – laut den Erinnerungen von I. A. Sisova – eine Vorlesung zur griechischen Epigraphik fur Leningrader Studenten und Doktoranden.
[27]So wird die Kritik von T. N. Knipovic an die Tolstoj-Redaktion in Uber die Entstehung ..., Bl. 3 zusammengefasst.
[28]Uber die Entstehung ..., Bl. 2. Zwei Auszuge aus diesem Dokument sind in 12 maschinengeschriebenen Seiten mit der Uberschrift "Die bosporanischen Inschriften als historische Quelle" erhalten geblieben (ZES, f. 17, Inventarverz. 2, Nr. 133, Bl. 59-71).