V. Das KBN-Fotoarchiv im vereinten Deutschland

Seit der Mitte der 60er Jahre lagen die Fotomaterialien unbenutzt da, wenn man von der bereits beschriebenen Episode Anfang der 70er Jahre einmal absieht. Erst ab der Mitte der 80er Jahre wurden von neuem Plane einer Ausgabe des KBN-Fotoalbums in Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin wiederbelebt. Dabei spielte der in der DDR und im damaligen Leningrad tatige Althistoriker Bernd Funck (1945-1996) eine zunehmend wichtige Rolle. Er besuchte bereits in den 60er und 70er Jahren auf Einladung Leningrad und nahm an der Arbeit der Abteilung fur Antike der LO I.I. teil. Nach seinem Abschluss an der Fakultat fur Geschichte der Antike der Leningrader Universitat arbeitete Funck am Ostberliner Zentralinstitut fur Alte Geschichte und Archaologie und verkorperte fur viele in der Sowjetunion in den Zeiten des "Eisernen Vorhangs" die Moglichkeit einer – wenn auch minimalen – Zusammenarbeit mit deutschsprachigen Landern auf dem Gebiet der Humanwissenschaften, die im zaristischen nachpetrinischen Russland au?ergewohnlich eng und gut war.

Ruckschauend kann man einen fur die Kulturgeschichte sehr interessanten Umstand feststellen, der sich jetzt noch klarer als zur sowjetischen Zeit manifestiert: ungeachtet der in der DDR noch starkeren politischen Unfreiheit, bewahrten sowohl die Deutsche Akademie der Wissenschaften, die aus der Preu?ischen hervorgegangen war, als auch die Sowjetische Akademie der Wissenschaften, die die Nachfolgerin der Petersburger war, den fur ihre beiden Vorgangerinnen charakteristischen Respekt gegenuber den soliden Wissenschaftstraditionen und insbesondere gegenuber epigraphischen Forschungen. Die Vermittlerrolle Funcks stutzte sich auf das Interesse der deutschen Wissenschaftsinstitute am weiteren Schicksal der Materialien in den verschiedenen Akademieinstituten von Leningrad-Petersburg. Die sich in den 80er Jahren verstarkenden Kontakte Funcks mit der Bundesrepublik – nach der Wiedervereinigung unterrichtete er an der Freien Universitat Berlin – und seine zweifellos aufrichtige Sympathie zur russischen Kultur und Sprache eroffneten die Perspektive einer Ausgabe des KBN-Fotoalbums mit der Unterstutzung westdeutscher Institute.

Nachdem die unterschiedlichen Varianten einer bosporanischen Publikation lange in der Gruppe der LO I.I. besprochen worden waren, behielt die Oberhand am Ende die Idee, die sich mehr an die Plane der 60er Jahre orientierte: ein Bilderatlant mit einem Anhang Addenda et corrigenda zu den alten Texten und vielleicht mit einem Anhang der Inschriften, die in fast drei Jahrzehnten nach dem Erscheinen des Corpus veroffentlicht wurden, folglich eine Vervollstandigung und Aktualisierung des KBN von 1965. Bei der Verteilung der Auftrage zu diesen Addenda et corrigenda wurden die Arbeiten berucksichtigt, die bereits ausgefuhrt worden waren, als man beabsichtigte, die Sylloge herauszugeben.[118]

Nachdem Funck, der u. a. wegen dieser Plane regelma?ig aus Berlin anreiste, ein grundsatzliches Einvernehmen uber die Ausgabe des Fotoalbums erzielt hatte, war es unerlasslich geworden, das KBN-Fotoarchiv in Ordnung zu bringen. Aus der damaligen Abteilung fur Antike waren damit – wenn man die Berichte des Historischen Instituts von 1990 bis 1992 zugrunde legt[119] – I. A. Levinskaja und der von ihr eingeladene S. R. Tochtas'ev (LOIVAN = Leningrader Abteilung des Instituts fur Orientalistik der Akademie der Wissenschaften, heute SPb FIV RAN) beauftragt. Um sich eine Vorstellung der von beiden geleisteten Arbeit zu verschaffen, ist es angebracht, hier in voller Lange die Arbeitsnotiz von I. A. Levinskaja und S. R. Tochtas'ev anzufuhren, die sie (zu Beginn des Jahres 1999) bei A. N. Vasil'ev, Mitarbeiter der ZES PFIRI, abgaben:[120]

„1964 wurde der Corpus der bosporanischen Inschriften (KBN) herausgegeben, zu dem ursprunglich auch ein Album mit Illustrationen (Fotos, Zeichnungen von Abklatschen usw.) erscheinen sollte, was aber aus verschiedenen Grunden nicht geschah. Anfang der 90er Jahre kamen wir erneut auf dieses Thema zu sprechen. Es stellte sich heraus, dass fast das gesamte Illustrationsmaterial fur die Ausgabe von 1964, auch die Negative, damals von der SPb FIRI RAN zur vorubergehenden Aufbewahrung an das IIMK RAN ubergeben wurde. 1992 wurden diese Materialien wieder zuruckgegeben. Es bestand zu dieser Zeit die Hoffnung (die sich leider spater nicht erfullte), das KBN-Album im Akademie Verlag herauszugeben, weshalb diese Materialien nicht dem Archiv des Historischen Instituts zuruckgegeben wurden. Au?erdem waren die Illustrationen wie die Negative nicht mit den Nummern der KBN-Inschriften verglichen worden. Diese Arbeit fuhrten wir gemeinsam mit einer Gruppe von Studenten aus der Historischen Fakultat durch. Auf Bestellung Tochtas'evs und dank dem Brief der Direktion des Instituts wurden vom Fotolabor der Eremitage fur das Album noch die fehlenden Fotos von 24 Inschriften gemacht; der Sammlung wurden auch 12 Fotos von Inschriften aus dem Britischen Museum hinzugefugt (auf Bestellung von Levinskaja) und 4 Abzuge von Inschriften aus Kerc (auf Bestellung von Tochtas'ev). Die Fotos und Zeichnungen der neuen Inschriften, die Tochtas'ev zur Veroffentlichung vorbereitete, sollten danach auch an das Institutsarchiv ubergeben werden.

Im Sommer 1993 arbeitete Tochtas'ev in der Steinsammlung des Kercer Historisch-Kulturellen Museumsparks, wo er ungefahr 120 Inschriften verglich. Dann fuhrte er eine analoge Arbeit im Lapidarium der Eremitage durch (ungefahr 250 Inschriften). Ein betrachtlicher Teil der Inschriften in der Eremitage uberprufte er mit Levinskaja. Die vorlaufigen Ergebnisse dieser Arbeit fasste Tochtas'ev im Manuskript "Materialien zur neuen KBN-Ausgabe" zusammen, das so gut wie druckreif war (ungefahr 14 Bogen). Ein kleiner Teil dieser Arbeit, die von Levinskaja erganzt wurde, erschien in dem Buch I. Levinskaja. The Book of Acts in Its Diaspora Setting Grand Rapids / Carlisle, 1996, 227-246, sowie in einer Reihe von Artikeln, die Tochtas'ev selbst oder als Mitautor mit Levinskaja schrieb. Aufgrund der Arbeit mit dem Illustrationsmaterial und mit den Inschriften selbst kamen wir zu folgenden Schlussfolgerungen: 1) Die Qualitat des vorhandenen Illustrationsmaterials entspricht den gegenwartigen Druckanforderungen. 2) Der 1964 erschienene KBN ist in vielerlei Hinsicht uberaltet (ein gro?er Teil der Lesungen ist nicht korrekt, die Kommentare bedurfen der Erganzungen und Korrekturen, es sind neue Inschriften hinzugekommen usw.). Daher erscheint uns eine neue aktuelle KBN-Ausgabe angemessen. Gegenwartig sind von Ju. G. Vinogradov wieder Gesprache mit deutschen Kollegen (Professor H. Heinen, W. Schuller) uber die Veroffentlichung einer neuen KBN-Ausgabe mit Album in nachster Zukunft aufgenommen worden.“

Fur die gegenwartige Untersuchung ist wesentlich,[121] dass die KBN-Fotomaterialien von neuem von Levinskaja und Tochtas'ev zusammengestellt wurden. Dafur mussten sie einige Kisten durchschauen, die sich in den Schranken der Abteilung fur Antike des Historischen Instituts befanden. In der Abteilung fur Geschichte der antiken Kultur der LOIA mussten sie daruber hinaus noch die Arbeitstische mit Materialien der akademischen Mitarbeiter untersuchen, die der KBN-Redaktion von 1965 angehorten. Auf diese Weise wurden einige Negative von bosporanischen Denkmalern wiederentdeckt. Aus dem Fotoarchiv der damaligen LOIA erhielten Levinskaja und Tochtas'ev uber einen offiziellen Brief der LO I.I. eine Menge von "Kontrollabzugen", die von der LOIA 1974[122] gemacht wurden und nicht mit den jeweiligen Korpusnummern versehen worden waren. Auch einige Fotoaufnahmen in den teilweise neu zusammengestellten und somit vollstandigeren Fotosatzen bedurften der Identifizierung mit den entsprechenden Corpus-Nummern, da man sich sonst in der Masse der Fotos nicht zurecht gefunden hatte. Neben den zusatzlichen Fotomaterialien der LOIA mussten noch einige Negative identifiziert werden, da wohl nicht auf allen die (aktuellen) Corpusnummern enthalten waren. Auf den Ruckseiten der Fotos, die im SPb I.I. aufbewahrt werden, sind die Anmerkungen von Levinskaja und Tochtas'ev neben denjenigen ihrer Vorganger Ende der 50er / Anfang der 60er Jahre noch erkennbar.

Parallel mit den Anstrengungen zur Synthese der Fotomaterialien wurde die Sammlung in dieser Etappe mit vergleichsweise wenigen, jedoch wertvollen Fotos erganzt: Levinskaja bestellte erneut 24 Fotos aus dem Britischen Museum und drei aus dem Cambridger Fitzwilliam Museum, was die vorhandene Institutskollektion um neun Inschriftenaufnahmen bereicherte, die vorher nicht in der Fotothek vorhanden waren.[123] In Ubereinstimmung mit der bereits erwahnten Arbeitsnotiz wurden von Tochtas'ev im Rahmen dieser Aufgabe vier (nicht in der Fotosammlung vorhandene) Aufnahmen von Kercer Inschriften[124] und weitere 24 Fotos aus der Eremitage bestellt. Wenn auch nicht vollstandig, so kam doch ein eindrucksvoller Satz von verschiedensten Fotoabbildungen, die mehr als 900 KBN-Inschriften illustrieren und von denen Levinskaja und Tochtas'ev ungefahr 50 bearbeiteten,[125] von 1992 bis 1994 in das schon vereinte Deutschland. Dies geschah mit Genehmigung der Leiterin der Abteilung fur Antike, I. A. Sisova, die, sich noch an die alten Plane einer Ausgabe eines Illustrationsbandes in Berlin erinnernd, einen weiteren Versuch unternahm und ein (au?erst kurzes, wie sie sich selbst erinnert) Vorwort zu der geplanten Ausgabe schrieb, deren Chefredakteurin sie sein wollte. B. Funck beabsichtigte das Vorwort Sisovas und die Addenda et corrigenda zum KBN ins Deutsche zu ubersetzen. Zusammen mit dem vergleichsweise umfangreichen (auf Russisch geschriebenem) Manuskript Tochtas'evs[126] und der bosporanischen Fotothek hatte diese Arbeit zum damaligen Zeitpunkt als Grundlage fur den lang ersehnten "zweiten Band" des Corpus dienen konnen.

Die Verhandlungen von Funck und anderer deutscher Kollegen mit dem Berliner Akademie Verlag sollten auch diesmal nicht zu einer Ausgabe der KBN-Illustrationen zusammen mit anderen Materialien fuhren. Die Umstande waren zu ungunstig, als dass Funck selbst 1992-1994 die Ubersetzungsarbeiten dieser Materialien fur den neuen bosporanischen Band hatte durchfuhren konnen.[127] Wie dem auch sei, das Hauptexemplar der Fotosammlung der LO I.I. (damals PFIRI) kehrte nach Petersburg zuruck und stand einige Jahre Tochtas'ev und Levinskaja zur freien Verfugung. Nachdem die Leitung der Abteilung fur Antike in der PFIRI zu Beginn des Jahres 1998 auf A. K. Gavrilov ubergegangen war und das Kollektiv auf wenige Mitarbeiter zuruckgefahren worden war – Levinskaja nahm nicht mehr teil – musste man zur alten ungelosten Aufgabe zuruckkehren und fur ihre Verwirklichung neue wissenschaftliche Krafte hinzuziehen.


 

[118] Folgende Aufteilung wurde geplant: Funck sollte die kaiserlichen Inschriften kommentieren, Levinskaja die Dokumente der Thiasoi, Gavrilov die Grabgedichte ubernehmen, Tochtas'ev erneut den Vergleich der Texte mit den Denkmalern und die fur die Edition wesentlichen onomastischen Studien durchfuhren.
[119] Im Bericht fur 1992 wird die Beendigung dieser Arbeit am "KBN-Illustrationsband " (F. II, Inventarverz. 1, T. 2, Nr. 227, Bl. 15-16) bekannt gegeben.
[120] ZES, Koll. 58, Nr. 1, Bl. 1-2.
[121] Der zweite Absatz der angefuhrten Arbeitsnotiz berichtet uber die Untersuchungen Levinskajas und Tochtas'evs bei der Einbeziehung der Fotos der bosporanischen Inschriften. Dabei muss man sich vergegenwartigen, dass das Ziel des ihnen von der Abteilung fur Antike anvertrauten Projekts vor allem die Veroffentlichung dieser Fotos war, nicht das (anderen unzugangliche) Studium der bosporanischen Inschriften.
[122] Im Verzeichnis der FA IIMK (siehe Fn. 111) gibt es auf einem einzelnen Blatt mit der Anmerkung "vorubergehende Aufbewahrung" ein Postscriptum (vom 13.V.1991) von E. S. Domanskaja uber die Abzuge, die 1991 von der FA IIMK fur das Historische Institut angefertigt wurden.
[123] Siehe weiter oben den Abschnitt Aus der Redaktion, Fn. 9.
[124] Der Redaktion des jetzigen Albums ist es leider nicht gelungen, die vier Kercer Fotos, die in der Arbeitsnotiz erwahnt werden, mit den KBN-Nummern zu identifizieren: auf den Brief der Redaktion an Tochtas'ev (empfangen am 18.III.2004) mit der Bitte, die entsprechenden Nummern der Sammlung zu nennen, wurde nicht geantwortet.
[125] Auf der einen Seite wird in den Berichten fur 1992 (F. II, Inventarverz. 1, T. 2, Nr. 227, Bl. 15-16) zum Zeitpunkt der Beendigung durch Levinskaja die Zahl 800 genannt (welche, wie oben schon bemerkt wurde, auch am haufigsten vorkommt), wahrend bereits 1973 (siehe Fn. 108) von Illustrationen zu 906 Inschriften die Rede ist. Andererseits erscheint im Bericht fur 1990 die Zahl 1200, die sich, wie man annehmen muss, nicht auf die Inschriften, sondern auf alle Illustrationen bezieht, ohne Rucksicht auf ihre Qualitat oder/und ihren Dokumentationswert.
[126] Das Manuskript Tochtas'evs hie? spater, wie er selbst erzahlt (S. R. Tochtas'ev. Aus der Onomastik der Nordlichen Schwarzmeerkuste: X-XVII. (russ.) // Hyperboreus 6, 1 [2000] 124) Materialien zur Neuausgabe des 'Corpus der bosporanischen Inschriften' und diente anscheinend als Grundlage fur seine detailliertere Veroffentlichungen.
[127] Es ist jetzt mu?ig, daruber zu urteilen, inwieweit hierzu die (fur uns unklaren) politischen Umstande beigetragen haben, die die letzten Lebensjahre Funcks uberschatteten. Der von ihm vorbereitete Band zur Geschichte des Hellenismus, der als Grundlage fur die internationale Konferenz 1994 zu diesem Thema diente und erst nach seinem plotzlichen Tod das Licht erblickte, wird mit einem Portrat von Funck und einem Nachruf von H.-J. Gehrke eingeleitet: H.-J. Gehrke. In memoriam Bernd Funck // Hellenismus: Beitrage zur Erforschung von Akkulturation und politischer Ordnung in den Staaten des hellenistischen Zeitalters. Akten des Internationalen Hellenismus-Kolloquiums 9.-14. Marz 1994 / Hrsg. Von B. Funck. Berlin 1996, V-VI).